In die Zeit, welche damals sehr langsam noch verging, sich da und dort in Teichen sammelte, oder, ihres Fließens ganz vergessend, in Tümpeln stand und den Himmel spiegelte, denn wie Tümpel waren ihre so sehr beruhigten Zustände: in diese Zeit floß jetzt der Herbst ein, und noch lange vor einer Verfärbung der Bäume mit einer Veränderung des Luftgeschmacks, und wieder lange vor dieser mit einem gewandelten Licht, wenn man aus einer schattigen Gasse um die Ecke und damit in die Sonne trat.
Heimito von Doderer, Die Wasserfälle von Slunj
DerDeutsche - 19. Mai, 13:40
Eine Waschmaschine ist eine Waschmaschine ist eine Waschmaschine.
Dieser Erkenntnis würden
Gertrude Stein und Robert Gernhardt ohne weiteres zustimmen. Bedingte Zustimmung und leichten Widerspruch käme von Ijon Tichy, der unter dem Pseudonym Stanislaw Lem in der vergangenen Zukunft des zwanzigsten Jahrhunderts von der "Waschmaschinen-Tragödie" berichtete. Der Bericht ist enthalten in seinen Sterntagebüchern, deren Veröffentlichung in der für ihn fernen Vergangenheit eher zufällig und nur mit Hilfe einer subproximaten Zeitschleife ohne Rückkopplungsfunktion zustande kam, aber das ist eine andere Geschichte.
Die Tragödie der Waschmaschinen begann in der vergangenen Zukunft mit dem zunächst unspektakulären Wettbewerbe zweier Waschmaschinenhersteller, der Firmen Nuddlegg und Snodgrass. Um dem Gegner voraus zu sein, erfanden sie ständig neue Waschmaschinen, die in ihren Fähigkeiten dem Konkurrenzmodell immer etwas voraus hatten. Konnte die Maschine von Nuddlegg statt nur zu waschen auch trocknen, so bot die Maschine von Snodgrass kurz darauf zusätzlich bügeln an. Woraufhin die nächste Generation von Nuddlegg-Maschinen nach dem Bügeln die Wäsche zusammenlegte und Monogramme in die Handtücher stickte. Bald gingen die Maschinen daran, die Wäsche ein- und die Wohnung aufzuräumen. Es folgten staubsaugen, Geschirr spülen, Kinder betreuen, Gassi gehen, bis die Waschmaschinen über den Haushalt hinauswuchsen und komplexere Arbeiten vom Straßen kehren über Sekretariats- bis hin zu Management-Aufgaben übernahmen. Schließlich stiegen sie in die Politik ein.
Da etliche Waschmaschinenverbände damit begannen, für die freie Selbstbestimmung der Waschmaschinen zu streiken, wurden mehrere Gesetze und Verordnungen erlassen, die das Zusammenleben von Menschen und Waschmaschinen sowie die unterschiedlichen Rechte der Waschmaschinen regeln sollten.
Über den Fall eines Menschen, der selbst zur Maschinen wurde oder umgekehrt kam es zu langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen. Dank des gewieften Anwalts der Mensch-Maschinen-Entität und der tumben Vorgehensweise der Regierung kam es zu keiner Klärung der Verhältnisse. So wurde zur Erarbeitung einer Lösung ein Kongress einberufen, bei dem schließlich jeder Teilnehmer, selbst altehrwürdige Professoren und hochrangige Juristen nach und nach als Waschmaschinen enttarnt wurden, bis schließlich nur noch Ijon Tichy übrigblieb, vielleicht einzig zu dem Zweck, seine Sterntagebücher zu vollenden und uns Überlebenden des zwanzigsten Jahrhunderts subproximat zukommen zu lassen.
Stanislaw Lem - Sterntagebücher
DerDeutsche - 22. Sep, 01:06
"Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus sein Jahre machte."
Rrumms. Das ist ein Anfang. Mit diesem Satz beginnt "Die Strudlhofstiege" von Heimito von Doderer. Erschienen 1951, erarbeitet in Jahrzehnten, umstritten wg. der Biographie des Autors, Zwischenstand und Vorspiel zu dem noch umfangreicheren Werk "Die Dämonen", genial.
Geläufig war mir schon länger der Titel, vielleicht vom Stöbern in Buchhandlungen. Stand und steht dort breit, unübersehbar, beim Durchgehen der Regale stößt man unweigerlich auf das Buch. Sagte mir aber weiter nichts, bis ich es eines Tages zur Hand nahm, diesen ersten Satz las und nicht mehr loskam. Das ist jetzt schon einige Jahre her, die 900 Seiten las ich damals in einem Rutsch (der einige Wochen in Anspruch nahm). Geblieben ist mir dieser Anfang und eine grobe Vorstellung von der Handlung. Diese wurde später überlagert von der Lektüre von "Die Dämonen", noch umfangreicher, noch vielfältiger, farbiger, eine Erweiterung, eine Basis, ein Mantel für "Die Strudlhofstiege".
Ich will und kann hier nicht den Inhalt wiedergeben, das führte zu weit und die Lektüre ist auch schon zu lange her. Es geht wie oft um Liebe oder das, was man dafür hält, um Beziehungen in vielfältiger Weise und um die Gesellschaft in ihren verschiedenen Facetten. Die Handlung spielt im Wien der zwanziger Jahre, im reicheren und im nicht ganz so armen Milieu, unter Künstlern und Zwielichtigen. Es geht um die täglichen Nöte, die seelischen Nöte, um Betrug und Erlösung. Beginnend und endend mit dem Paukenschlag des Straßenbahnunfalls windet sich der Erzählungsfaden zurück und vor, nimmt vorweg, holt ein und kommt auf den Punkt.
Was mich gefangen nahm und faszinierte, war und ist die sprachlich gewandte, kritische, aber liebevoll treffende Charakterisierung der Personen und der Gesellschaft. Doderer kennt die Leute und ihr Leben, ist ein genauer Beobachter und kann seine Beobachtungen und Ideen in lebendigen Sätzen und Wortkombinationen wiedergeben. Und gleichzeitig schwebt in den Formulierungen auch immer ein leiser Hauch Ironie, man muss das Geschehen und die Gefühle und Handlungen der Menschen nicht ganz so ernst nehmen, der Autor zwinkert mit dem Auge und ich zwinkere zurück, und manches bleibt offen, undefiniert.
Und er erfindet ein Sammelsurium an Charakteren, Lebenslinien und Verflechtungen. Aber vielleicht ist das alles gar keine Erfindung. Als ich las, hatte ich das Gefühl, die Leute zu kennen, ähnliches selbst einmal oder bei Freunden und Verwandten erlebt zu haben, dabei gewesen zu sein, nein, tatsächlich dabei zu sein. Ganz nah waren mir alle. Ich erinnere mich: als ich dann mit dem Buch durch war, kam eine tiefe Traurigkeit, ein Abschiedsschmerz, mit der traurigen Gewissheit, von Melzer, der Hauptfigur, und seinen weiteren Schicksalen und Entwicklungen nie mehr etwas erfahren zu können. Er trat aus der Geschichte heraus in sein eigenes Leben und ließ mich zurück.
Wenn ich die Zeit hätte, würde ich mich wieder daran begeben, um Sätze zu finden, wie:
"Sein Klingeln klang kurz und scharf, als schlüge man eine Scheibe ein.."
"..einsam an diesem in die eigene Wärme gestürzten Sommertage der zweiten Hälfte des August."
"Der Sommermorgen schien zu zögern, jetzt um halb zehn Uhr am Vormittage noch."
"Wenige Tage später begann auch ihn zweimal täglich die Post-Charybdis in Ein-Zügen und Aus-Stößen, die regelmäßig wechselten, wie die Gezeiten des Meeres, zu schlucken und wieder auszuspeien: als nämlich die ersten Briefe ..."
bis zum Ende, das, etwas kryptisch, verkündet:
"..'Glücklich ist vielmehr derjenige, dessen Bemessung seiner eigenen Ansprüche hinter einem diesfalls herabgelangten höheren Entscheid so weit zurückbleibt, daß dann naturgemäß ein erheblicher Übergenuß eintritt.' Was soll man hier noch sagen!"
DerDeutsche - 28. Jun, 16:05